Schlagwort: geschichte

  • Stratifizierung des Bildungssystems

    Da es dazu Nachfragen gab, als Ergänzung noch ein bisschen Begriffsgeschichte: Stratifizierung (oder auch Stratifikation) leitet sich ab von lat. „stratum“ (Schicht) und lat. „facere“ (machen). Wörtlich ist Stratifizierung also die Erzeugung von Schichten bzw. Schichtungen bzw. ein Zustand der Schichtung.

    Bildlich gesprochen sind damit so etwas wie Kohleflöze gemeint, die sich waagerecht ausdehnen und übereinanderliegen bzw. durch dazwischenliegende Erdschichten voneinander getrennt werden. Als soziale Stratifikation bezeichnet man die Einteilung der Gesellschaft in verschiedene Schichten, die in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht etc.)

    Übertragen auf das Bildungssystem bedeutet dies, dass es niedrigere und höhere Bildungswege gibt, die von einander getrennt verlaufen und zwischen denen kaum Durchlässigkeit besteht.

    Beim Nachdenken darüber fiel mir auf, dass ich in meiner Vorstellung des Bildungssystems entscheidend durch die in Baden-Württemberg in meiner Schulzeit in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts üblichen graphischen Darstellungen der möglichen Bildungswege geprägt wurde, die den Bildungsweg durchweg als Weg von unten nach oben (Ziel in der Regel Studienabschluss, Promotion) darstellten und eben nicht als Seitwärtsbewegung durch Kohleflöze (vgl. auch diese Darstellung des gesamtdeutschen Bildungssystems). Es ist tatsächlich eine Besonderheit des Bildungssystems in Ba-Wü schon relativ früh Durchlässigkeit der Bildungswege und Kreuzungsmöglichkeiten vorgesehen zu haben (u.a. durch Einführung beruflicher Gymnasien ab Sekundarstufe 2) und beispielsweise in Form der Berufsakademien Hochschulstudium und betriebliche Ausbildung miteinander verknüpft zu haben.

  • Modul 1 C LE 1 SB3

    1. Das deutsche Bildungssystem ist hochgradig stratifiziert, dies zeigt sich beim Übergang in die Sekundarstufe I und deren Ausdifferenzierung, aber auch generell an allen Schwellen des Übergangs: in die Sekundarstufe II, den Hochschulbereich und in das Beschäftigungssystem. Es findet eine frühe Vorsortierung und eine Verengung des Zugangs durch geforderte Zugangsberechtigungen statt. Das Berufsbildungssystem gliedert sich in die Sektoren duales System, Schulberufssystem und Übergangsbereich. Das duale System ist innerhalb des Berufsbildungssystems dominierend. Es beginnen jedoch inzwischen jedes Jahr etwa gleich viele Personen eine duale Ausbildung wie ein Hochschulstudium. Zwischen verschiedenen Ausbildungsberufen besteht eine informelle Hierarchie entsprechend ihrer Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt. Fachliche Qualifizierung ist in Deutschland hochgradig standardisiert und wird im Prinzip der Beruflichkeit verkörpert und mit Zertifikaten belegt. Das duale System bring Facharbeiter*innen, Fachkräfte und Gesell*innen hervor. Die Bezeichnung dual ist dabei irreführend – weder beschränkt sich die Berufsausbildung auf zwei Lernorte noch geschieht sie tatsächlich systematisch. Der Berufsschulunterricht ist nicht per se praxisfern und die betriebliche Ausbildung verläuft nicht theorielos. Auszubildende sind in zwei Rechtsverhältnisse eingebunden: als Berufsschüler*innen in ein öffentlich-rechtliches Berufsschulsystem, als Vertragspartei eines privatrechtlichen Ausbildungsvertrages in den Ausbildungsbetrieb. Korporatismus sichert die Kompromissfindung zwischen staatlichen Interessen und denen der Arbeitgeber und Gewerkschaften.
    2. International handelt es sich bei dem dualen System um einen Sonderweg der deutschsprachigen Länder. Ein Export des dualen Systems in andere Länder ist bislang stets an der Inkompatibilität zu den historischen, kulturellen und institutionellen Rahmenbedinungen anderer Länder gescheitert.
    3. Die Zahl der Ausbildungsplätze innerhalb des dualen Systems ist marktwirtschaftlichen Schwankungen von Angebot und Nachfrage unterworfen. Darauf wirken neben demographischen Entwicklungen auch Faktoren wie Konjunktur, Passungsprobleme, regional ungleiche Verteilung und Rentabilitätsüberlegungen der Ausbildungsbetriebe ein. Als paradoxe Folge der Bildungsexpansion sind höhere Bildungsabschlüsse als Zugangsberechtigung zu Ausbildungsberufen zugleich wichtiger und wertloser geworden. Die Verwertbarkeit von Bildungsabschlüssen und Zertifikaten ist zunehmend unsicher und unkalkulierbar.
    4. Berufliche Vollzeitschulen haben neben in Deutschland ebenfalls eine lange Tradition. Heute zählen dazu Berufsfachschule, Fachoberschule, berufliches Gymnasium/Fachgymnasium, Berufsoberschule, Fachschule und weitere länderspezifische Schularten. Organisatorisch sind diese häufig unter dem einheitlichen Dach einer beruflichen Schule zusammengefasst. Berufliche Vollzeitschulen dienen der Berufsqualifikation in einem Ausbildungs- oder Schulberuf, der Berufsvorbereitung oder -orientierung, dem Erwerb von Berechtigungen (höherer allgemeinbildender Schulabschluss, bzw. Doppelqualifikation) aber auch der Aufbewahrung oder Warteschleife angesichts fehlender passender Ausbildungsplätze. Aufgrund der ausschließlichen Länderkompetenz ist das Segment der beruflichen Vollzeitschulen zersplittert und national wenig standardisiert (anders als in Österreich und der Schweiz). Berufsfachschulen bilden insbesondere im kaufmännischen, hauswirtschaftlichen, sozialpflegerischen und künsterlischen, sowie im Bereich der bundesrechtlich geregelten Berufe des Gesundheitswesens aus. Frauen sind in den Berufsfachschulen stark überrepräsentiert.
    5. In Deutschland konkurrieren das duale System und das Hochschulsystem als dominante Berufsausbildungssyteme. Schulformen und Schulabschlüsse sind inzwischen weitgehend entkoppelt. Es lässt sich eine bildungsmeritokratische Logik beobachten, wonach sich die Zuweisung von sozialem Status zunehmend an Zertifikaten des allgemeinen Bildungssystems orientiert, die ihrerseits überkommene Ungleichheit legitimieren und das hochgradig selektive Bildungssystem letztlich perpetuieren. Praktische und fachliche Kompetenzen werden demgegenüber entwertet. Die deutsche Debatte um Chancengleichheit in der Bildung konzentriert sich nach wie vor auf Fragen des Zugangs zu höherer Bildung, ignoriert aber die paradoxe Folge der sich verschlechternden Wettbewerbschancen weniger gebildeter Personen auf dem Arbeitsmarkt, die damit notwendig einhergeht.
    6. Akademisierung bedeutet die Verlagerung von Ausbildungen aus dem Berufsbildungssytem in das Hochschulsystem. Parallel dazu findet jedoch auch eine Verberuflichung der Hochschulbildung statt, die zunmehend auf „employability“ abzielt – entgegen dem, vielleicht aber ohnehin nur vorgeschobenen – traditionellen Selbstverständnis deutscher Universitäten. Beide Systeme finden zueinander in Form von dualen Studiengängen.
  • Modul 1C LE1 SB2

    1. Das „duale System“ ist keine Selbstverständlichkeit. Manche Staaten überlassen die Berufsausbildung komplett der Wirtschaft bzw. dem Markt (Japan, USA). In anderen Staaten organisiert, plant und kontrolliert der Staat die Berufsausbildung bürokratisch, diese findet in Schulen statt (Frankreich, Italien, Schweden). Das staatlich gesteuerte Marktmodell, in dem der Staat den Rahmen setzt, innerhalb dessen Betriebe ausbilden, ist eine Besonderheit der deutschsprachigen Länder. Es ist eine Folge historisch gewachsener Parallelstrukturen, die im 20. Jahrhundert zusammengeführt wurden.
    2. Die 1810 in Preußen eingeführte marktliberal ausgerichtete Gewerbefreiheit löste mit dem Zunftzwang auch das Ausbildungsmonopol der Zünfte ab. Die Mittelstandsbewegung konkurrierte daraufhin mit den Ansprüchen der Industrie. Gewerbeordnungsnovellen der 1880er Jahre schrieben die Berufsausbildung als Serbstverwaltungsaufgabe der Wirtschaft fest und legten den Grundstein für das spätere duale System. Parallel dazu entwickelte sich aus der Sonntagsschule die in einigen Ländern verpflichtende Fortbildungsschule für Jugendliche – die u.a. eine wahrgenommene „Erziehungslücke“ zwischen Schulentlassung und Militärdienst schließen sollte. Rücklin und Kerschensteiner setzten sich dafür ein, dass die Fortbildungsschule eine Gewerbe- bzw. Berufsschule wurde. Bildungsziel war der brauchbare Staatsbürger, der sich durch Gewissenhaftigkeit, Fleiß, Beharrlichkeit, Selbstüberwindung und die Hingabe an ein tätiges Leben auszeichnete.
    3. Bis zum ersten Weltkrieg hatte sich eine duale – unverbundene – Struktur aus Betriebslehre (für Handwerkslehrlinge und Handelsgehilfen) und Fortbildungsschule (alle anderen Schulabgänger) herausgebildet. Der Fachkräftebedarf der Industrie hatte zusätzlich zur Einrichtung von Lehrwerkstätten, in denen systematisch Industrielehrlinge ausgebildet wurden, geführt.
    4. Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein existierten parallel ein handwerklich-traditioneller und ein modern-industrieller Sektor. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde der traditionelle Sektor zunehmen von dem industriellen Sektor absorbiert. 1935 wurde die Facharbeiterprüfung der Gesellenprüfung gleichgesetzt. Die Industrie entwickelte ein systematisches Ausbildungsprogramm aus Lehrwerkstatt und Lehrgang. Werkschulen konnten sich wegen der hohen Kosten nicht durchsetzen. Stattdessen wandelte sich die Fortbildungsschule zur verpflichtenden Berufsschule mit vereinheitlichter berufsfachlicher Ausrichtung. Seit 1969 regelt das Berufsbildungsgesetzt die duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule.
    5. In 1970er Jahren fand eine Reformdiskussion statt. Starkes Wirtschaftswachstum nach dem zweiten Weltkrieg hatte das Bildungs- und Berufswahlverhalten der Bevölkerung dynamisiert. Die Lebensverhältnisse der Bevölkerungsgruppen glichen sich mehr und mehr an. Ungleichheit wurde nun auf ungleiche Bildungs- und Aufstiegschancen zurückgeführt. Es gelang jedoch nicht, die strikte Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung zu überwinden.

    (Republikation eines Beitrags aus dem alten Blog vom 23.05.2024)

  • Modul 1C LE1 SB1

    1. Die Struktur des deutschen Bildungssystems ist in den letzten 300 Jahren entstanden. Die strukturelle Entwicklung wird anhand des preußischen Schulwesen bis 1918 aufgezeigt. Die 1717 im General Edict proklamierte Schulpflicht ließ sich trotz Bekräftigung im Allgemeinen Landrecht erst um 1880 tatsächlich durchsetzen. Das Allgemeine Landrecht unterscheidet niedere und höhere Schulen, wobei den niederen (teils koedukativen) Volksschulen zunächst vor allem die Aufgabe zukommt herrschaftskonforme christliche Untertanen hervorzubringen, während die höheren Schulen (Gymnasien für Jungen mit humanistisch ausgestaltetem Lehrplan) darauf abzielen mit dem 1788 eingeführten Abitur die Berechtigung zum Studium zu verleihen. Dazwischen etablieren sich im 19. Jahrhundert Mittelschulen (Realschulen), die, ausgehend vom Programm der Aufklärung, auf die Vermittlung von nützlichem und praxistauglichem Wissen ausgerichtet sind. Auch die Volksschulen orientieren sich ab 1872 stärker am tatsächlichen Bedarf der aufkommeneden Industriegesellschaft. Aufgrund einer Modernisierungsdebatte entstehen um 1900 zusätzlich das neusprachlich ausgerichtete Realgymnasium und die naturwissenschaftlich-mathematisch ausgerichtete Oberrealschule, die ebenfalls zum Abitur führen, sowie Oberlyzeen für Mädchen, die ab 1908 ebenfalls das Abitur ablegen dürfen. Bis 1918 ist das System ständisch strukturiert, mit getrennten Bildungsgängen und Instutionen ab Klasse 1. Erst 1919/1920 wurde für alle Kinder eine gemeinsame Grundschule eingeführt sowie die Trennung nach der 4. Klasse nach dem Leistungsprinzip. Nach 1945 wurden in der DDR alle Kinder von Klasse 1-10 gemeinsam unterrichtet und ggf bis Klasse 12 auf ein Studium vorbereitet. In der BRD blieb es beim gegliederten Schulsystem, dem sich nach 1990 auch die neuen Bundesländer anschlossen.
    2. Die Kulturhoheit der Länder nach Art. 30,70 GG greift auf die Zuständigkeiten der Reichsverfassung von 1871 zurück. Die in der Weimarer Verfassung vorgesehene stärkere Rolle des Reiches in Bildung und Schule wurde nach der Erfahrung der NS-Zeit in der BRD nicht beibehalten. Der Bund ist damit lediglich für außerschulische Berufsbildung (die dem Bereich Wirtschaft zugeordnet wird) und Ausbildungsförderung zuständig. Innere Schulangelegenheiten regeln die Länder, äußere Schulangelegenheiten die Kommunen als Schulträger. Koordination der Schulpolitiken geschieht durch die KMK.
    3. Für unter 3-jährige besteht seit 2013 ein Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung, deren Besuch allerdings freiwillig und in der Regel gebührenpflichtig ist. Im 21. Jahrhundert besteht auch für den Elementarbereich ein Bildungsauftrag, die Idee eines Schonraumes ohne pädagogische Zielsetzung wurde aufgegeben. Ab dem 6. Lebensjahr besteht Schulpflicht, meist für zwölf Jahre, wobei die letzten drei Jahre auch im beruflichen Schulwesen abgeleistet werden können. Die Grundschule umfasst in der Regel die Klassen 1-4. In den Klassen 5-10 (Sekundarbereich I) und 11-13 (Sekundarbereich II) existiert eine Vielzahl paralleler Schulformen, die zu verschiedenen Abschlüssen führen, wobei auch Schulform und Abschussmöglichkeiten vielfach entkoppelt worden sind. Vielfach wurde auch die Hauptschule als eigenständige Schulform aufgegeben. Der Übergangsmechanismus von der Grundschule zu weiterführenden Schulen orientiert sich, empirisch belegt, vielfach nicht am tatsächlichen Leistungsvermögen. Dies hat vielfach eine starke soziale Selektion der SuS zur Folge. Zwischen den Schulformen besteht grundsätzlich „Durchlässigkeit“, die jedoch vor allem im Sinne einer Herabstufung auf eine weniger anspruchsvolle Schulform genutzt wird. Mögliche Schulabschlüsse sind der Hauptschulabschluss, Mittlere Abschluss, die Fachhochschulreife und das Abitur (allg. Hochschulreife). Das deutsche Schulsystem zerfasert seit einigen Jahrzehnten. Es erscheint fraglich, inwiefern formal gleiche Bildungsabschlüsse den gleichen Leistungsstand wiedergeben. Darauf wird mit Maßnahmen zur Standardisierung und Zentralisierung reagiert. Parallel dazu verlieren die Abschlüsse ihre Funktion im Berechtigungswesen: Hochschulen und andere Ausbildungsinstitutionen suchen ihre Anfänger zunehmend nach eigenen Kriterien aus. Im Berufsbildungssystem ist seit den 2010er Jahren die Zahl der Studienanfänger etwas höher als die Zahl derer, die eine duale Ausbildung beginnen. Immer mehr Jugendliche befinden sich in Übergangssystemen.
    4. Nach 1945 kam es in Deutschland zu einer Bildungsexpansion: längerer Schulbesuch, zunehmend auf „höheren“ Schulformen, Mädchen besuchen gleich häufig oder häufiger allgemeinbildende Schulen. Bildungsbenachteiligung geht heute vor allem mit der sozialen Schichtzugehörigkeit oder einer Migrationsgeschichte einher. Hier ist der aus Art. 3 GG abgeleitete Grundsatz des gleichen Zugangs zu Bildung noch nicht verwirklicht.
    5. Als Bildungsschisma wird die in Deutschland strikte Trennung zwischen Allgemeinbildung und beruflicher Bildung bezeichnet. Im 21. Jh. hat die KMK verschiedene Beschlüsse gefasst, die eine stärkere Durchlässigkeit zwischen beiden Bildungswegen eröffnen sollen.

    (Republikation des Beitrags aus dem alten Blog vom 30.04.2024)